Ab Mai 1938 errichteten die I.G. Farbenindustrie und die Bergwerksgesellschaft Hibernia nordöstlich von Marl am Wesel-Datteln-Kanal einen neuen Chemiestandort zur Herstellung von synthetischem Kautschuk (BUNA) und weiteren Chemikalien auf der Basis von Ethylenoxid. Die Vestische Kleinbahnen GmbH den Auftrag, die Werksanlagen der Chemischen Werke Hüls mittels einer Straßenbahnstrecke für den Arbeiterverkehr an das Nahverkehrsnetz des nördlichen Ruhrgebiets anzubinden. Das Anschlussgleis sollte zwischen Marl und Hüls von der bestehenden Strecke abzweigen.
Mitte März 1939 war die rund drei Kilometer Meter lange Strecke verfügbar. Sie wurde zunächst eingleisig auf einem eingleisigen Bahnkörper angelegt. Bis Ende Mai 1939 wurde der Anschluss doppelgleisig ausgebaut. Die Verbindung zum bestehenden Netz erfolgte über ein eingleisiges Gleisdreieck: Dessen westlicher Ast führte über die heutige Rappaportstraße zur Bergstraße, der östliche Ast lief über die Lassallestraße. Eine doppelte Gleisverbindung in Höhe der Haltestelle Schreierstraße ermöglichte aus beiden Richtungen die Einfahrt in die zweigleisige Zufahrt der Chemischen Werke.
Vor dem Verwaltungsgebäude entstand eine großzügige Endstellenanlage. Zur Bereitstellung der Arbeiterzüge, die jeweils aus einem Trieb- und bis zu drei Beiwagen gebildet wurden, standen hier in der Anfangszeit insgesamt fünf Aufstellgleise zur Verfügung. Die Gleislänge betrug einschließlich der Aufstellgleise rund 4,5 Kilometer.
Auf dem nachfolgenden Foto aus dem Archiv der Vestischen Straßenbahnen sind auf der Zufahrt zur Gleisschleife an den Chemischen Werken zwei Arbeiterzüge und ein Zug der Gleismeisterei zu erkennen. Es wurde vermutlich im Zweiten Weltkrieg aufgenommen.
LINIEN 12 UND 14
In der Nachkriegszeit übernahmen die Linien 12 und 14 die Verbindung von Marl nach Recklinghausen. Die Linie 12 fuhr von Buer Rathaus über Hassel, Polsum und Marl nach Hüls, die Linie 14 verband die Chemischen Werke mit Recklinghausen. An der Haltestelle Heisterkampstraße traf die „14“ auf die „12“. An der Haltestelle Stadtschänke in Hüls mussten Fahrgäste der Linie 12, die nach Recklinghausen wollten, spätestens in die Linie 14 umsteigen.
Der Düsseldorfer Straßenbahnfreund Dieter Waltking fotografierte am 3. Februar 1958 den Großraum-Triebwagen 364 an der Endstelle Chemische Werke (Sammlung Axel Reuther).
AN DEN RAND GEDRÄNGT
In den folgenden Jahren des „Wirtschaftswunders“ verlor der Gleisanschluss der Chemischen Werke zunehmend an Bedeutung. Viele der gutverdienenden Mitarbeitenden konnten sich bereits früh ein eigenes Kraftfahrzeug leisten. Vor dem Werkstor wurden schon in den frühen 1960er-Jahren weitläufige Parkplätze angelegt. Um für sie und einen Omnibusbahnhof Platz zu schaffen, wurde die Schleife der Straßenbahn verkleinert: Die Straßenbahn wurde „an den Rand gedrängt“.
Die Direktverbindung aus Marl zu den Chemischen Werke wurde anfangs von der Linie 6 und ab 1955 von der Linie 21 hergestellt. Aus dieser Zeit stammt das nachfolgende, von Hans Oerleman aufgenommene Motiv der Rappaportstraße (Sammlung Wolfgang R. Reimann).
LINIE 24
Mit Inkrafttreten des Sommerfahrplans 1957 wurde zwischen Buer, Marl und Recklinghausen die durchgehende Linie 24 eingeführt. Sie fuhr im 30-Minuten-Takt. Im Wechselspiel mit den Linie 12, 21 und 14 ergab sich auf allen Streckenästen ein 15-Minuten-Takt. Trotz diese guten Verkehrsangebots wurde die Fahrt mit der Straßenbahn für viele Fahrgäste in ländlichen Raum, vor allem aber für die Mitarbeitenden der Chemischen Werke in den 1960er-Jahren zunehmend unattraktiv. Man stieg auf den eigenen Personenkraftwagen um.
Am 24. September 1966 wurde die Stichstrecke zu den Chemischen Werken stillgelegt. Die Linienbezeichnungen 14, 21 und 24 wurden aufgegeben. Stattdessen fuhr die Linie 12 jetzt im Viertelstundentakt.
Das Beitragsbild zeigt die Chemischen Werke auf einer Postkarte aus dem Jahr 1954. Rechts ist die Schleife der Straßenbahn zu erkennen (Verlag Cramers Kunstanstalt, Dortmund – Sammlung Ludwig Schönefeld). Das nachfolgend gezeigte Luftbild wurde 1973 gedruckt. Das Motiv mit der noch existierenden Wendeschleife ist jedoch schon deutlich älter (Verlag Cramers Kunstanstalt, Dortmund – Sammlung Ludwig Schönefeld).